Die radelnden Passivhaus-Reporter
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- Veröffentlicht am Donnerstag, 16. August 2018 12:54
Das Passivhaus ist schon längst keine Einzelerscheinung mehr, sondern es kann ein Stadtbild durchaus prägen, ohne das der höchst energieeffiziente Standard direkt sichtbar wird. Innsbruck weist mittlerweile eine sehr hohe Dichte an Passivhäusern und Sanierungen im EnerPHit-Standard auf.
Davon waren selbst die Experten aus Innsbruck überrascht, als sie sich per Rad auf den Weg machten, um diesen nicht auf den ersten Blick erkennbaren besten verfügbaren Baustandard zu beleuchten. Auf der 10 Kilometer langen Radtour mitten im dicht verbauten Stadtgebiet von Innsbruck, das nur 350 Hektar umfasst, konnten sich auf Einladung der Passivhaus Austria, im Anschluss an die Pressekonferenz mit Bürgermeister Georg Willi und LHStv. Josef Geisler, ein Dutzend radelnder Teilnehmer von gleich 21 Passivhäusern und Sanierungen im EnerPHit-Standard selbst ein eindrucksvolles Bild machen. Diese Bauten weisen einen bis zu 90 Prozent geringeren Energieverbrauch als vor der Sanierung bzw. im Vergleich zum Mindeststandard auf und versorgen sich Großteils mit erneuerbarer Energie. In Summe umfassen diese Objekte 120.000 Quadratmeter Energiebezugsfläche und über 1.600 Wohneinheiten. Noch nicht mit eingerechnet sind die künftigen Objekte im Campagne-Reiter-Areal mit weiteren 1.000 Wohnungen und gewerblichen Bauten. Sechs Wochen vor der UCI Rad-WM in Innsbruck ging es bei dieser Radtour nicht um Geschwindigkeit, sondern darum, die meisten Stopps für Besichtigungen von Passivhäusern und EnerPHit-Sanierungen in einem urbanen Stadtgebiet einzulegen.
Die Tour startete mit den Stadträdern der IVB Innsbrucker Verkehrsbetriebe beim Kletterzentrum Sillside, das die Innsbrucker Immobiliengesellschaft (IIG) im Passivhaus-Standard errichtete. Das mit dem American Architecture Prize ausgezeichnete Kletterzentrum sichert den Extremsportlern beste Luftqualität mit einem Minimum an Magnesiumstaubbelastung. Beste Voraussetzungen also für die in einem Monat dort stattfindende IFSC Kletter-Weltmeisterschaft.
Nach nur einer Minute Radfahrt mit Überquerung der Sill erreichte die Gruppe bereits die große Wohnanlage O3 Olympisches Dorf. Die Wohnbebauung auf dem Areal der ehemaligen Eugenkaserne besteht aus 13 quaderförmigen Baukörpern mit wechselnden Höhen von bis zu acht Geschoßen. Die im Jahr 2012 von der NEUE HEIMAT TIROL (NHT) errichtete Anlage beherbergt 444 Wohneinheiten im Passivhaus- und Niedrigstenergiehaus-Standard mit Passivhaus-Komponenten. Gleich vis á vis gab es die weltweit größte zertifizierte Passivhaus-Wohnanlage Lodenareal aus dem Jahr 2009 zu bestaunen. Am Lodenareal errichtete die NHT Passivhaus Mietwohnungen auf einem EG + 5 Obergeschoßen. Je zwei L-förmige Gebäudeflügel bilden je einen Anlagenblock und umschließen einen Innenhof. Die 361 Wohnungen weisen eine Energiebezugsfläche von 27.804 m2 auf.
Danach ging es weiter zur EnerPHit-Sanierung IN43 der Wohnanlage Reichenauerstraße der NHT mit 60 Wohnungen im Rahmen des EU FP7 Sinfonia Projektes. Als nächstes stand am anderen Ufer des Inns der Neubau des Hauses für psychosoziale Pflege und Wohnen der IIG auf dem Programm. Das Haus mit 14 Kleinwohnungen vom Verein Psychosozialer Pflegedienst Tirol wird im Rahmen des Forschungsprojektes der Tiroler Wohnbauförderung mit fassadenintegrierter PV-Anlage und elektrischer Energieversorgung mit PV Speicher sowie einer Flatrate für die Energiekosten errichtet.
Keine 300 Meter weiter konnten die Teilnehmer die EnerPHit-Sanierung der Volksschule Neu-Arzl, Teil des EU-Förderprojektes Sinfonia, betrachten, die mit Schulbeginn September 2018 abgeschlossen sein wird. Fortan werden die Schüler in den 14 Klassen mit verbesserter Konzentrationsfähigkeit dem Unterricht folgen können, da eine moderne Komfortlüftung für eine gute Raumluft im Sommer wie im Winter sorgt. Am Dach der Volksschule ist zudem eine Photovoltaikanlage zur Deckung des Stromverbrauches installiert.
In unmittelbarer Nachbarschaft beherbergt das 2015 fertiggestellte Wohn- und Pflegeheim Olympisches Dorf der Innsbrucker Stadtbau GmbH 118 Pflegebetten samt allen dazu gehörigen Einrichtungen. Die herausragende Qualität der Architektur und die Nachhaltigkeit des Projektes als zertifiziertes Passivhaus zeichnen das Projekt aus. Eine Besonderheit ist die Lage des Projektes im Olympischen Dorf nahe am Innufer inmitten des Bestandes von Bäumen und Grünanlagen. Die Uferpromenade wurde durch das auf filigranen Stützen nahezu schwebende Gebäude überbaut.
Wieder zurück über den Inn durchquerte die Radgruppe das vor Baubeginn stehende Campagne-Reiter Areal in Reichenau. Es handelt sich dabei um das größtes Innsbrucker Wohnbauprojekt mit über 1.000 Wohnungen in Passivhaus-Standard im Gesamtausmaß von ca. 8,4 Hektar. Wo sich derzeit nur das Bürgerinformationszentrum als kunstvolle Holzarena befindet, werden schon 2021 die ersten 300 Wohnungen fertig gestellt sein
Am südlichsten Punkt der Tour besuchten die Teilnehmer das Seniorenwohn- und Pflegeheim Pradl. Das Bestandsgebäude Haus A wurde durch einen erweiterten Neubau mit 120 Pflegezimmern ersetzt. Am 9.8.2018 übergab Laszlo Lepp vom Passivhaus Institut Innsbruck das Zertifikat Passivhaus classic an Markus Schöpf, den technischen Leiter der IIG, sowie Architekt Markus Prackwieser, im Beisein von Bürgermeister Georg Willi und Energielandesrat LH-Stv. Josef Geisler. Bei diesem Projekt hat sich die IIG neben dem höchsten Energieeffizienzstandard auch besonders den Aspekten Wohngesundheit und Behaglichkeit gewidmet.
Wiederum in der Reichenauerstraße wurde im Rahmen des EU FP7 Sinfonia Projektes auch der Geschoßwohnungsbau IN40 von der NHT 2017 auf EnerPHit-Standard modernisiert. Gleich daneben schließt das Stadtteilzentrum der Pfarre St. Paulus an, auf dessen Baurechtsgrundstück die NHT 2017 ein neues, modernes Stadtteilzentrum errichtete. Das Zentrum im Passivhaus-Standard umfasst 70 Mietwohnungen, eine Einheit für betreutes Wohnen, einen Kindergarten mit Kinderkrippe sowie das Sozialpastorale Zentrum mit Pfarrwidum, Sakristei, Café und Jugendzentrum.
Wiederum vis á vis befindet sich die Wohnhausanlage IN28 - Bauteil Nord + Süd aus dem Jahre 1958, die von der NHT im Rahmen des EU-Förderprojektes Sinfonia als so genannte step-by-step-Sanierung auf EnerPHit-Standard renoviert wird. Im ersten Sanierungsschritt wurde die thermische Hülle saniert, sowie fast die Hälfte der Fenster getauscht. Ein Drittel der Wohnungen wurden mit Komfortlüftung mit Wärmerückgewinnung (WRG) ausgestattet. Sobald alle Fenster getauscht und alle 84 Wohnungen eine WRG haben, wird sich der Heizwärmebedarf (HWB) auf 16,9 kWh/m²a verbessern. Vor der Sanierung betrug der HWB 211 kWh/m²a.
Wiederum nur wenige hundert Meter weiter und die Sill überquerend, erreichte die Radgruppe die beiden Wohnanlagen Sillblock I und Sillblock II der IIG. Im Zuge des EU-geförderten Projekts Sinfonia wurde das Mehrfamilienwohnhaus Sillblock I aus dem Jahre 1941 mit 34 Wohneinheiten auf EnerPHit-Standard saniert. Die Herausforderung bestand u.a. darin, das Objekt im bewohnten Zustand mit höchsten Anforderungen zu renovieren, inkl. Einbau einer kontrollierten Wohnraumlüftung mit Wärmerückgewinnung. Die EnerPHit-Zertifizierung ist in Arbeit.
Der bestehende Sillblock II wurde aufgrund seines schlechten Zustandes abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Die blockrandartige Neubebauung besteht aus 122 Wohnungen mit einer klaren Trennung von Straßen- und Hofraum in einen „harten Schale“ zur Straße und einen „weichen Kern“ zum Hof. Im Gegensatz zum vorherigen schmalen, dreiseitig geschlossenen Blockrand ist der Neubau in der Mitte aufgebrochen. Er teilt sich in zwei spiegelgleiche, zum Innenhof hin abgetreppte Baukörper mit einer konkaven Gebäudeflucht, die sich Richtung Kopfbauten verjüngt. Der bestehende großzügige Innenhof mit den vier Linden blieb erhalten.
Einmal um die Ecke ergänzen drei unterschiedlich große, polygonale Punkthäuser das Wohnquartier Bienerstraße entlang der Bahntrasse und geben dem Ort einen neuen unverwechselbaren Charakter. Durch die gewählte Grundrissform profitieren alle Wohnungen von einer zweiseitigen Belichtung und freier Sicht in die unmittelbare Umgebung. Alle Loggien sind über Eck angeordnet und bieten den Wohnungen einen besonnten Freibereich, den die Bewohner ab Oktober 2018 in dann zertifizierten Passivhäusern genießen können.
100 Meter weiter geht gerade die Generalsanierung SchuMo in der Schubertstraße und Mozartstraße im Rahmen vom EU-Förderprojekt Sinfonia über die Bühne. Im Rahmen dieser Sanierung auf EnerPHit-Standard werden die insgesamt 59 Bestandswohnungen thermisch saniert und in der zweigeschoßigen Aufstockung der soziale Wohnungsbau um 24 Wohnungen erweitert. Oberste Priorität hat die Einhaltung des bestehenden Städtebaus, der zur Straße einen geschlossenen Ringblock aufweist und sich zum Innenhof öffnet.
Zum Abschluss der 10 Kilometer Radtour wurde der im Rahmen vom EU-Förderprojekt Sinfonia von der NHT modernisierte Geschoßwohnbau IN13 in der Bruckner Straße, Hugo-Wolf-Straße und Viktor-Dankl-Straße mit insgesamt 95 Wohnungen im EnerPHit-Standard besucht. Die Gebäudeaufstockung in Passivhaus-Standard auf der obersten Ebene ist auch als solche erkennbar. Ein schlanker, klarer Längsbaukörper schwebt über der Glas-Fuge des Bandfensters.
All diese positiven Passivhaus-Beispiele wurden qualitätsgesichert mit dem Passivhaus-Projektierungspaket PHPP detailliert bauphysikalisch berechnet. Dieses Planungswerkzeug sichert eine sehr hohe Übereinstimmung zwischen berechnetem Bedarf und tatsächlichem Energieverbrauch. Außerdem erhielt die Hälfte dieser Objekte die Zertifikate Passivhaus oder EnerPHit ausgezeichnet oder befindet sich gerade im Zertifizierungsprozess. „Dies zeigt, dass es bei sofortigem konsequentem Handeln möglich ist, nicht nur einzelne Gebäude zukunftsfit zu bauen, sondern auch Stadtquartiere oder ganze Städte bis 2050 enkeltauglich zu gestalten. Es ist nun höchste Zeit, diesen besten verfügbaren Baustandard auch Österreich weit zu etablieren“, erklärt Günter Lang. Der Leiter der Passivhaus Austria fordert alle auf, den ausgezeichneten Beispielen zu folgen. Das Passivhaus ist schon längst keine Einzelerscheinung mehr, sondern kann, wie am Beispiel Innsbruck eindrücklich gezeigt, das Stadtbild prägen, ohne dass dies allerdings sichtbar wird.
Obwohl die Radfahrer die Auswirkungen des Klimawandels bereits zu spüren bekamen, da die Radtour am heißesten Tag des Jahres 2018 stattfand, war es ein cooles und vor allem motivierendes Erlebnis. Abschließend waren sich alle Teilnehmer einig: „Let us act now!“ und den Energieverbrauch von Gebäuden um 90 Prozent senken sowie den CO2-Ausstoß bis 2050 auf Null bringen. Bereits nächstes Jahr wird es dann einen Passivhaus-Rad-Marathon zu 42 Passivhäusern und EnerPHit-Sanierungen auf 42 Kilometer Länge quer durch Innsbruck geben.
Einige dieser Objekte werden auch unter den 120 Passivhäusern in Österreich sein, die zu den Tagen des Passivhauses vom 9. bis 11. November 2018 zu besichtigt werden können.